Montag, 7. Oktober 2013

"Hair" in Halberstadt ~ 06.10.2013

"Hair" ist sicherlich auch eines dieser Stücke, dass schon unzählige Mal inszeniert wurde, an jedem erdenklichen Ort. Allerdings glaube ich, dass es sich viele Inszenierungen zu einfach mit dem Werk machen: Ein bisschen Flowerpower, ein paar Perlenketten, Perücken und das Kriegsthema, dass irgendwo mit erhobenem Zeigefinger daher kommt. Doch genauso funktioniert "Hair" für mich nicht und die gestern besuchte Inszenierung in Halberstadt vom Nordharzer Städtebundtheater hat es eindeutig geschafft, nicht in dieses Schema X zu passen und einen durchweg positiven Eindruck zu hinterlassen.

Das Bühnenbild bleibt eher im Hintergrund, zwei Wohnwagen und zwei Zelte, doch durch die ständige Bewegung auf der Bühne fällt dies kaum auf. Die Kostüme fügen sich nahtlos in die Zeit der Handlung ein, kunterbunt, Schlaghosen, Glitzer und mit viel Liebe zum Detail.

Regisseur Klaus Seiffert hat interessante Ansätze in das Stück gebracht und definitiv ganz bewusst versucht, das Musical nicht nur wie eine Art große Party ohne Motive aufzuziehen.
Besonders der Einfall, dass Claude und Sheila schon von Anfang bei den Hippies dabei sind, lässt die Inszenierung heraustechen. Dies funktioniert bei Claude sehr gut, auch wenn seine Wandlung vom Landei zum Hippie auf der Strecke bleibt. Dafür bleibt viel mehr Zeit, dem Charakter Tiefe zu geben. Sheilas Rolle hingegen geht so leider etwas unter.

Martin Markert als Claude nutzt die Chance, seinem Charakter viele Facetten zu verleihen. Einerseits spiegelt sein Claude die Rebellion und den Trotz einer ganzen Generation wieder, andererseits sind da auch viele leise Zwischentöne und Zweifel in ihm, genauso wie pure Angst z.B während seinem Trip. Egal ob rockig-trotzig oder leise-zweifelnd, Martin spielt und singt sich souverän mit kraftvoller Stimme durch alle Songs. Hervorzuheben sind eindeutig noch die Sprechszenen, sein Claude schafft es mit beeindruckender Bühnenpräsenz selbst in diesen kurzen Parts unheimlich viel zu vermitteln. Es ist definitiv einer dieser Gänsehautmomente, die "Hair" so ausmachen, wenn er sich wünscht, unsichtbar zu sein.

Tobias Amadeus Schöner als Berger bildet dazu das passende Gegenstück. Auch er spielt facettenreich, besonders bleiben die Szenen in Erinnerung, die in der Gegenwart angesiedelt sind. Diese zeigen den alten Berger, der sich dort mit einer gewissen Melancholie an Claude, die Blumenkinder und vergangene Zeiten erinnert. Ebenso singt er sich sicher durch alle schnellen und auch langsamen Lieder.

Die Rückblicke fügen sich in das gesamte Stück flüssig sein, sehr schön der Einfall, dass während der Demonstration die Schilder umgedreht werden und aktuelle Parolen wie „Theater muss sein“ und „Weg mit Hartz IV“ zu lesen sind. Während L.B.J wird Barack Obama im Hintergrund eingeblendet und die Inszenierung schafft es, neu und alt stimmig zu verknüpfen.
Sheila, gespielt von Julia Siebenschuh, bleibt jedoch das ganze Stück über etwas farblos, fügt sich aber sehr gut in das Dreiergespann um Berger und Claude ein und punktet auch mit ihrer Stimme.

Gespielt wird in deutscher Sprache, was dem Stück streckenweise sogar gut tut. Die Themen in den Songs sind verständlicher und die teilweise auch angepasste Übersetzung stört an keiner Stelle.
Regisseur Klaus Seiffert hat es außerdem geschafft, das Ballett sehr stimmig einzubinden. Flott getanzte Choreografien, wie bei der Musterung, bringen viel Leben auf die Bühne. Besonderer Höhepunkt: Die durchchoreografierten Kampfszenen während Claudes Trip.

Durch enorme Spielfreude und ein daraus resultierendes, sehr gut funktionierendes Zusammenspiel überzeugt das gesamte Ensemble. So wirkt der "Tribe" auf der Bühne authentisch. Hier ist noch Enrico Scheffler als Woof hervorzuheben, der mit Witz und Charme viele Lacher erntete.
Das Orchester spielt sich ebenso souverän durch das Stück, die Orchestrierung ist einfach gehalten, aber setzt stimmige Akzente, wie bei "Wo geh ich hin'".

Die Kriegsthematik im zweiten Akt wird überzeugend inszeniert. Sei es der schon erwähnte Trip von Claude oder auch das unheimlich starke Ende, das ebenso Gänsehautfaktor hat. "Let the Sunshine in" wirkt hier viel mehr wie ein wirklicher Appell an das Publikum: Nahezu verzweifelt singen die verbliebenen Blumenkinder auf Claudes Beerdigung und zeigen, dass wir selber etwas tun müssen, um die Welt zu verändern.
So bleibt am Ende nicht nur das Flowerpower Gefühl, sondern auch die Ahnung, dass das eben gesehene nichts von seiner Aktualität verloren hat.

Fazit: Diese Inszenierung verbindet Spaß und Ernst, genauso wie Gegenwart und Vergangenheit, ohne albern zu wirken oder den mahnenden Zeigefinger zu heben. Martin Markert als Claude stellt eine Idealbesetzung mit starker Kombination aus Stimme und Schauspiel dar, die dem Charakter Vielschichtigkeit verleiht. Tobias Amadeus Schöner als Berger steht ihm in fast nichts nach. Julia Siebenschuh als Sheila bleibt vielleicht auch inszenierungsbedingt etwas blass, fügt sich aber gut ein. Das Ensemble rundet das Gesamtbild ab. Sehenswert!

Infos rund ums Stück & weitere Aufführungstermine unter: http://www.harztheater.de/hair